„Charakterwerkstatt“: Ein Jahr des Dienstes in Köln-Finkenberg

Foto: Dana Panahi

Dass Jugendliche nach ihrem Schulabschluss eine Zeit lang einen sozialen Freiwilligendienst im In- oder Ausland leisten und dabei den Nöten der Zeit entsprechend zum gesellschaftlichen Wandel beitragen, ist ein etabliertes Konzept. Darauf baut das Zeit des Dienstes Programm Deutschland auf und hat den Ansatz des zweifachen moralischen Wandels: Einzelne und die Gesellschaft machen zugleich und in Wechselwirkung Fortschritte. Dieses Prinzip prägt die zwei Ziele des Programms: Zum einen wird ein Beitrag zur Entwicklung der Nachbarschaft, in welche die Jugendlichen für ihre Zeit des Dienstes ziehen, angestrebt. Gleichzeitig wird auf die Förderung und die Befähigung der Jugendlichen in ihrer persönlichen Entwicklung sowie die Vorbereitung auf ein Leben, bei dem der Dienst an der Menschheit eine zentrale Rolle spielt, eingewirkt.

Der Charakter einer solchen Zeit des Dienstes ist dabei von geistiger Natur, wie Lidia Rosenfeld, Mitglied des Zeit-des-Dienstes-Komitees Deutschland, verdeutlicht: „Manchmal versuchen wir, auf die Nöte der Zeit zu antworten, aber packen das Problem nicht bei den Wurzeln an. Dabei ist das Problem oft, dass uns eine geistige Entwicklung fehlt. Das Jahr des Dienstes Programm ist darauf ausgelegt, dass wir geistige Fähigkeiten in uns und in der Nachbarschaft, in der wir dienen, aufbauen, um auf die Nöte der Gesellschaft zu reagieren und ihnen entgegenzuwirken.

Etwas fürs Leben lernen

KÖLN-FINKENBERG, Nordrhein-Westfalen. Das junge Ehepaar Nora und Simon hat sich dazu entschieden, zwischen Schule und Studium ein ganzes Jahr dem Dienst zu widmen. Dazu sind die beiden jungen Erwachsenen in die multikulturelle Nachbarschaft Köln-Finkenberg gezogen, wo sich die Bahá’í-Gemeinde bereits seit einigen Jahren engagiert. Die Bahá’í vor Ort fördern einen Prozess der Gemeindebildung, wobei sie sich mit den Nachbarn aus dem Ort in Verbindung setzen und in Aktivitäten zusammenkommen, die den Zusammenhalt der Familien stärken, die Erziehung der jüngeren Generation begünstigen und das Auseinandersetzen mit dem geistigen Leben anregen. Mit wachsender Aktivität haben sich die Bahá’í in Finkenberg zu einem sogenannten Kern-Team zusammengeschlossen, bei dem mittlerweile auch weitere engagierte Nachbarn mitmachen. Dieses Kern-Team kommt regelmäßig zusammen, um Aktivitäten zu planen, umzusetzen und zu reflektieren. Ferner wohnen zwei Bahá’í in Finkenberg, die Jugendliche in ihrer Zeit des Dienstes als Mentoren begleiten.

Foto: Dana Panahi
Simon und Nora Jurisch leisten ein freiwilliges Jahr des Dienstes in Köln-Finkenberg.

Nachdem sich Nora und Simon bereits im Sommer 2020 mit anderen Jugendlichen für eine kurze Zeit in der Nachbarschaft engagiert hatten, entschieden sie sich nach einigen Überlegungen und einer Vielzahl an Beratungen dazu, ab Oktober 2020 ein Jahr des Dienstes in Finkenberg anzugehen. Nora erinnert sich, dass es für sie schon immer klar gewesen sei, ein Jahr dem Dienst zu widmen: „Nach der Schule wollte ich nicht direkt anfangen zu studieren, weil ich noch mehr lernen wollte als das, was man in der Schule lernt, ich wollte etwas fürs Leben lernen. Und ich wollte auch meine Verbindung zu Bahá’u‘lláh stärken und fand den Gedanken einfach unglaublich schön, ein Jahr lang nichts anderes zu machen als zu dienen.

Eine Besonderheit des Programms ist, dass die Jugendlichen dazu befähigt werden, ihr Handeln und Lernen in Einklang mit den Zielen des Kern-Teams der Nachbarschaft in die eigene Hand zu nehmen. Dies erfordert viel Selbstdisziplin und Eigeninitiative, wie die beiden Jugendlichen schon bald merkten. Obwohl jeder Tag anders ausschaut, gibt es doch einige Strukturen, die sich durch den täglichen Dienst ziehen.

Zeit für Planung und Studium

Nach dem Aufstehen steht täglich das Daily Meeting an. Hier schließen sich Nora und Simon mit anderen Freunden aus dem Kern-Team zusammen, um den Tag gemeinsam mit Gebet, Reflexion und darauf aufbauend mit einer Tagesplanung zu beginnen. So kann sich das Team abstimmen, welche Aktivitäten am Tag anstehen und wer dabei wen unterstützen kann. Der weitere Vormittag widmet sich dann erst einmal alltäglichen Aspekten wie Frühstück und Hausarbeiten, lässt aber auch Raum für weitere individuelle Vorbereitung auf den Tag und das Studium der Bahá’í-Schriften.

Insbesondere dem persönlichen Studium schenkt das Programm große Aufmerksamkeit: So können Nora und Simon sich an einer Leseliste orientieren, die ihnen verschiedene Primärtexte aus den Bahá’í-Schriften vorschlägt, darunter Schriften von Bahá’u’lláh, ‚Abdu’l-Bahá, Shoghi Effendi und dem Universalen Haus der Gerechtigkeit. Auch hier setzt das Programm nicht bloß an der Vermittlung von Wissen, sondern vor allem am Aufbau von Kapazitäten an. Nora liest derzeit ein Buch über das Leben von den Händen der Sache Gottes – frühe Gläubige, die ihr Leben in herausragender Weise dem Dienst am Glauben widmeten. Nachdem es Nora zunächst einmal schwerfiel, ihre Aufmerksamkeit über längere Zeit einer Lektüre zu widmen, sieht sie nun Fortschritte in ihrer Konzentration und Selbstdisziplin: „In meiner Zeit des Dienstes habe ich gelernt, mich am Stück zu konzentrieren und zu studieren, mir einen Plan fürs Studium zu machen und die Bedeutung davon zu verstehen und es wertzuschätzen, dass man so viel Zeit dafür hat.

Ein Netzwerk entsteht

Foto: Simon Jurisch
Nora gestaltet Einladungen für einen Geschichtsabend.

Nach dem Mittagessen begeben sich Nora und Simon dann regulär in die Nachbarschaft. Dort lernen sie neue Leute kennen, knüpfen Freundschaften, besuchen bereits bekannte Nachbarinnen und Nachbarn und lernen viel darüber, tiefgreifende Gespräche über Dienst, den Wandel der Nachbarschaft und den Gemeindebildungsprozess zu beginnen und fortzuführen. Was sich mittlerweile zu einer natürlichen Gewohnheit entwickelt hat, war anfangs allerdings gar nicht so einfach, wie Simon berichtet: „Am Anfang war es jedes Mal unangenehm, wenn wir in die Nachbarschaft gegangen sind. Man kannte so wenig Leute und hat sich nicht so richtig zugehörig gefühlt.“ Corona und die kalte Jahreszeit machten es nicht leichter. Ermutigend und unterstützend wirkten in dieser Zeit die praktische sowie zeitintensive Begleitung durch ihre Mentoren und der Austausch mit anderen Jugendlichen, die in Deutschland eine Zeit des Dienstes machen. Die Ausdauer und Beständigkeit, die die beiden Dienstleistenden mit ihren täglichen Besuchen in der Nachbarschaft an den Tag legten, trugen letztendlich auch Früchte. „Jetzt kennen uns alle und sehen uns jeden Tag. Mittlerweile gehören wir schon dazu und haben auch mit so vielen Leuten Kontakt oder hatten schon Gespräche. Die Leute wissen, warum wir hier sind“, beobachtet Simon die Entwicklung. Nora nimmt ihr Wirken in der Nachbarschaft um einiges natürlicher wahr als am Anfang: „Ich fühle mich selbst als Teil der Nachbarschaft.“

Mittlerweile blicken die zwei auf ein Netzwerk von Freundschaften zurück und sind seit ein paar Monaten besonders mit einer Gruppe Jugendlicher befreundet: „Das ist im Grunde genommen eine große Familie, wo wir zu Einzelnen richtig tiefe Freundschaften aufgebaut haben“, meint Nora. Diese Erfahrung spiegelt sich auch in ihrem Verständnis von dem Begriff Nachbarschaft wider. Über das rein geographische hinaus assoziiert Nora mit einer Nachbarschaft vor allem „Freundschaften innerhalb der Nachbarschaft, Zusammenhalt, dass man sich untereinander kennt“.

Aktivitäten systematisch unterstützen

Ergänzend zum Aufbau eines sozialen Netzwerkes vor Ort greift der Dienst der Jugendlichen auch auf systematische Weise praktische Aktivitäten des Gemeindebildungsprozesses auf. So tragen etwa Andachten zur Einheit und geistigen Entwicklung der Nachbarschaft bei, Kinderklassen und Juniorjugendgruppen fördern die Befähigung sowie moralische Erziehung der Jüngeren, und Ruhi-Kurse begleiten Menschen ab 15 Jahren dabei, über geistige Themen nachzudenken und aktiv Dienste für ihr soziales Umfeld zu leisten.

Während Noras persönlicher Fokus auf der Jugendbewegung und damit einhergehend dem Ruhi-Programm liegt, wendet sich Simon besonders dem Juniorjugend-Programm zu. Dieses umfasst die Begleitung von Juniorjugendlichen im Alter von 12 bis 15 Jahren in der Entdeckung und Entwicklung ihrer Potenziale. Gemeinsam mit seiner Mentorin leitet er eine Juniorjugendgruppe und unterstützt die Juniorjugendlichen als Animator dabei, ihre Interessen und Faszinationen in praktische, für andere dienliche Handlungen umzusetzen. Neben regelmäßigen programmorientierten Treffen und freundschaftlichen Zusammenkünften zeichnet sich die Gruppe durch Dienstprojekte aus.

Juniorjugendliche machen sich stark

Foto: YouTube
Die Juniorjugendlichen haben Bilder für ein Erklärvideo zum Berufsfeld Informatik gemalt.

Die Juniorjugendlichen aus dem Kern der Gruppe teilen ein reges Interesse für IT. Ein Teilnehmer hat allerdings festgestellt, dass viele Kinder und Jugendliche in ihrer Nachbarschaft wenig über den Beruf eines Informatikers wissen. So kam die Frage auf, wie die Juniorjugendlichen mehr über dieses Berufsfeld aufklären können. Zusammen mit den Animatoren der Gruppe haben sie folglich ein kreatives Erklär-Video über Grundzüge der Informatik gedreht, um insbesondere Kindern die Möglichkeiten dieses Berufsfelds aufzuzeigen. Darauf aufbauend haben die Juniorjugendlichen einige Monate später zu einem Treffen eingeladen, zu dem ein Dutzend Kinder und Juniorjugendliche kamen. Die Juniorjugendlichen führten Gespräche über Informatik und Programmieren und luden zudem zur Juniorjugendgruppe ein.

Es hat wirklich Türen geöffnet, dieses Dienstprojekt war so ein Schlüssel“, reflektiert Simon vor dem Hintergrund, dass sich die Juniorjugendlichen mit neuen Freunden verbinden konnten und sich Ansätze für eine weitere Juniorjugendgruppe ergaben. Dies bestätigt seinen Eindruck, dass die Jugendgruppe zum Zusammenhalt der Juniorjugendlichen der Nachbarschaft beiträgt und Einheit bewirkt: „Es gibt hier schon verschiedene Freundesgruppen und wir haben die Jujus immer so wie wir sie kennen lernen zusammengewürfelt.“ Obgleich der Dienst als Animator herausfordernd ist und mit einigen Aufs und Abs ein hohes Maß an Beständigkeit erfordert, ist sich der junge Mann über die Wichtigkeit seines Dienstes bewusst: Er nimmt die Gruppe als einen „lebendigen Kern“ wahr, der eine Dynamik erzeugt, die auch über die Aktivität hinaus Verbindungen zu den Eltern und Familien der Juniorjugendlichen indiziert.

Kapazitäten aufbauen

Neben den praktischen Aktivitäten ist auch die Reflektion des eigenen Lernfortschrittes ein elementarer Bestandteil des Programmes. Ein Raum, der sich dafür wöchentlich öffnet, ist das Weekly Meeting mit den Mentoren. Dabei kanalisiert eine Leitfrage die Reflektionen der Jugendlichen: „Welche Kapazitäten konnten wir in der letzten Woche in anderen und in uns selbst aufbauen?

Eine übergreifende Kapazität, mit der sich Nora und Simon konfrontiert sehen, ist Selbstständigkeit. Ob in der Tagesplanung, im Haushalt oder in der Aktivität in der Nachbarschaft – Selbstdisziplin und Zeitmanagement sind stets gefordert. Gerade zum Schulalltag stellt dies einen deutlichen Kontrast dar, wie Simon aufzeigt: „Man merkt das gar nicht so, wenn man in der Schule ist und der halbe Tag schon voll geplant ist. Dann weiß man gar nicht wie das ist, wenn der Tag komplett frei ist und man alles von morgens bis abends selbst planen muss.

Nora betrachtet ihre Zeit des Dienstes darüber hinaus als eine „Charakterwerkstatt“. In der multikulturellen Nachbarschaft Finkenberg lernt sie demnach „mit vielen verschiedenen Menschen aus diversen Kulturen umzugehen, Menschen bedingungslos zu lieben und was es bedeutet, nicht auf die Fehler anderer zu schauen“. Zudem habe es ihr Selbstbewusstsein verändert, „weniger an sich selbst zu denken und mehr mit anderen und für andere zu machen“. Simon hat zudem die Kapazität aufgebaut, sich seiner Umgebung anzupassen und sich in neue Lebensrealitäten einzufinden: „Wenn ich jetzt noch einmal umziehen würde, wüsste ich besser, wie ich mich in die Nachbarschaft integrieren und Freunde auf natürliche Art und Weise finden kann.“

Eine Lebenseinstellung entwickelt sich

Foto_Simon Jurisch
Jugendliche aus dem Kern-Team haben persischen Reispudding für Besuche bei Familien aus dem Ort zubereitet.

Simon und Nora haben ihr Verständnis über den Begriff Dienst deutlich erweitert. Hat Simon zuvor bei Dienst an konkrete Projekte oder Taten gedacht, bei denen zum Beispiel etwas gereinigt oder gepflanzt wird oder man jemandem in Not hilft, so ist ihm jetzt klar: „Dienst kann einfach so vieles sein. Zum Beispiel Wissen vermitteln oder ein gutes Vorbild einer gewissen Eigenschaft sein.“ Letztendlich liege der Dienst mehr in der Haltung als in der spezifischen Handlung, wobei man „losgelöst vom eigenen Selbst etwas mit dem Nutzen für andere tut, seine eigenen Fähigkeiten mit viel Freude und Begeisterung für etwas einsetzt, was der Allgemeinheit zugutekommt“. Dabei sei es wichtig, dass man begeistert und entflammt ist bei dem, was man tut, aber nicht so sehr am Erfolg hänge. Man könne das Ergebnis manchmal gar nicht beeinflussen oder sehe die Wirkung gar nicht. Wenn das gewünschte Ergebnis nicht herausrauskomme, solle man sich davon nicht vom Dienst abbringen lassen, findet Simon.

In Hinblick auf die Zeit nach ihrem Jahr des Dienstes sieht Nora Dienst zudem weiterhin als zentralen Teil ihres Lebens. Auch wenn sie studiert, eine Ausbildung macht oder arbeitet, möchte sie den Prozess in der Nachbarschaft, in der sie lebt, unterstützen. Dabei wünscht sie sich für die Zukunft, diese Elemente ihres Lebens nicht zu trennen, da man alles unter dem Aspekt des Dienstes betrachten könne: „Dann ist die Art und Weise wie man die Sachen angeht einfach anders, man strebt in allen Bereichen nach Vollkommenheit, man versteht, warum man Dinge tut. Es ist nicht mehr die Frage ‚Ist jetzt das eine wichtiger oder das andere?‘ Man weiß, dass beides wichtig ist und man beides in Dienst verwandeln kann.

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