Das Potenzial der Beratung 

Grafik: Kambiz Poostchi, Spuren der Zukunft

Grafik über das Potenzial der Beratung aus dem Buch Spuren der Zukunft von Kambiz Poostchi

‚Abdu’l-Bahá sagte: „Regelt alle Dinge, ob groß oder klein, durch Beratung.“ [1]‚Abdu’l-Bahá, Textzusammenstellung Beratung Dominik hat sich das zu Herzen genommen und übt seit zwei Jahren mit einem kleinen Team, über Fragen des Lebens zu beraten: Soll ich in eine andere Stadt ziehen? Welchen Beruf sollte ich wählen? Wie verhalte ich mich meinem neuen Kollegen gegenüber? Wie gehe ich mit Konflikten in der Familie oder in der Arbeit um? … Die Gruppe ist überzeugt, dass niemand sich mit diesen Fragen alleine fühlen sollte, und hat bereits Erfahrungen gesammelt, wie bereichernd es sein kann, mit anderen über Entscheidungen zu beraten. Bahá’í vor Ort war bei einer der wöchentlichen Sitzungen dabei. 

Ein gemeinsames Ziel

STUTTGART, Baden-Württemberg. Jeden Donnerstag treffen sich Dominik, Roland, Lena, Andreas und David online. Sie sind aus drei verschiedenen Ländern zusammengeschaltet und haben das gemeinsame Ziel, mehr über Beratung zu lernen, das Gelernte mit anderen zu teilen und sich dabei zu unterstützen, Beratung zu einer Gewohnheit werden zu lassen.  

Oft beraten sie Fragestellungen aus dem persönlichen Leben der Mitglieder, manchmal kommen aber auch Personen zur Gruppe dazu und bringen ein Thema mit, bei dem sie nach einer Antwort suchen. Das können scheinbar kleine Entscheidungen sein wie die Wahl des nächsten Urlaubsziels, aber auch weitreichende, schwierige Entscheidungen in der Familie oder im Arbeitsumfeld sowie Unterstützung bei Konflikten. 

Erst verstehen, dann beraten

Heute leitet Lena die Beratung. Als Moderatorin versteht sie sich als Prozessbegleiterin, sie ermutigt und koordiniert die Beteiligung, hält die Beratung lebendig, verhindert Diskussionen und Streitgespräche, fasst Punkte zusammen und lässt abstimmen. Sie gibt wieder, was sie in der Gruppe spürt, achtet darauf, dass jedes Mitglied gehört wird, und behält die Zeit im Auge. Sie sagt: „Ganz wichtig ist, dass die Moderation nicht hierarchisch über den anderen steht. Im Gegenteil, es ist eine sehr demütige, dienende Haltung, in der man versucht, der Gruppe alles bereitzustellen, was sie braucht. 

Die Gruppe hält sich strikt an den Zeitplan von zwei Stunden. Im ersten Schritt wird, wenn die Fragestellung noch zu unkonkret formuliert ist, zunächst die Frage möglichst präzise herausgearbeitet. Dann geht es weiter mit der Faktensammlung. Hier erzählt die Person, die die Frage eingebracht hat, alle relevanten Hintergrundinformationen. Die anderen hören zu und stellen Fragen zum besseren Verständnis. Es ist wichtig, dass man sich bei diesem Schritt wirklich zunächst an die Fakten hält und persönliche Ansichten oder Vorschläge beiseite schiebt, erklärt Lena. 

Vorgefasste Meinungen fallen lassen

Foto: Unsplash
Bei einer Beratung ergänzen sich verschiedene Sichtweisen zu einem gemeinsamen Ergebnis.

Wenn dann jeder ein Bild der Situation vor Augen hat, wird nochmals die Frage wiederholt und die Gruppe beginnt, nach einer Antwort zu suchen. Doch wie macht man das jetzt genau? Es gibt viele wissenschaftliche Modelle darüber, wie Beratung funktionieren kann. Dominik und seine Gruppe haben viel gemeinsam gelesen und orientieren sich nun am Open System Modell von Kambiz Poostchi. Die Grundsätze decken sich mit den Vorstellungen ‚Abdu’l-Bahás: Wenn sich (…) Menschen zusammentun, um die Wahrheit zu erforschen, so müssen sie damit beginnen, dass sich jeder über seine einzelne besondere Lage hinwegsetzt und alle vorgefassten Meinungen fallen lässt. Um die Wahrheit zu finden, müssen wir von unseren Vorurteilen, unseren eigenen kleinlichen, alltäglichen Vorstellungen lassen.“ (‚Abdu’l-Bahá, Ansprachen in Paris 41:7) 

Roland bemerkt: „Das Wesen dieser Form von Beratung zeigt sich u.a. auch in der Haltung, in der wir uns in den Dienst der Person stellen, die ein Anliegen einbringt. Das Beratungsteam verbindet dabei ein gemeinsames Ziel: die beste Lösung für den Themensteller herauszufinden. Und Andi erwähnt: „Jeder soll in aller Freiheit seine eigenen Gedanken und Gefühle mitteilen. Es ist vergleichbar mit einem Fluss. Jeder Gedanke wird in diesen Gedankenfluss gelegt. Falls dieser Gedanke für das Beratungsteam Relevanz hat, wird er sicher von weiteren Mitgliedern aufgegriffen. Er fließt somit an der Oberfläche und wird sichtbar. Man muss seinen Standpunkt nicht verteidigen oder öfter einbringen. In dieser Haltung der Loslösung versucht jeder die Gedanken, die ihm in den Sinn kommen, auf den Tisch zu legen. Es geht nicht darum, wer was gesagt hat. Wichtig ist nur, dass jede Ansicht gehört und verstanden wird. Die Gruppe greift gemeinsam die Gedanken auf, betrachtet sie von allen Seiten und spinnt sie weiter. Es kommt zu einem Gedankenfluss, den manche als Flow Erlebnis beschreiben würden.

Weisheit entsteht aus der Vielfalt

Irgendwann fragt Lena: „Wer fühlt sich dazu bereit, eine Entscheidung zu treffen? Alle nicken. Lena wiederholt die verschiedenen Aspekte, die während der Beratung zur Sprache kamen, und stellt erneut die Anfangsfrage. Alle sind dafür. Die Entscheidung ist gefallen. “Wir versuchen immer einstimmig zu entscheiden. Das gelingt auch oft, ansonsten gilt die Stimmmehrheit“, sagt Roland. Dominik ergänzt: „Je vielfältiger die Gruppe ist, desto besser. Das sollte man sich bei der Auswahl der Teilnehmer, die man für eine Beratung einlädt, zu Herzen nehmen. Man kann sich auch überlegen, Experten zum Thema einzuladen oder Personen, die einen kaum oder gar nicht kennen. Nach der Beratung reflektiert die Gruppe über den Prozess und überlegt, was gut funktioniert hat und womit sie sich schwergetan hat. 

Hilfe annehmen

„Ich hatte am Anfang großen Respekt davor, die Menschen in meinem Leben einfach so nach Hilfe zu fragen”, erzählt Lena. „Doch dann hab ich meine erste Teamberatung gemacht und Leute dazu eingeladen – zum Beispiel auch eine Freundin, die ich erst ganz kurz kannte. Sie hatte sehr viel Wertvolles zu teilen und hat sich danach für mein Vertrauen bedankt. Seither ist unsere Freundschaft auch tiefer geworden. Aus meiner Erfahrung helfen Menschen sehr gerne und es bringt uns alle näher zusammen, wenn wir in die Lebensgeschichten der anderen involviert werden. Teamberatung ist ein Ansatz, um diese Nähe zu verstärken.  

Über das große Potenzial, das Beratung in sich trägt, haben Dominik, Roland, Lena, Andreas und David schon so manches gelernt. Unter anderem, dass sich die Qualität von Entscheidungen steigert, der Beschluss von mehr Gewissheit getragen ist, Einheit in der Vision und im Handeln gefördert wird und dass sich das Vertrauen einstellt, dass das Ergebnis das bestmögliche ist. 

Sie sind herzlich zum Mitmachen und -lernen eingeladen. Schnuppergäste sind jederzeit donnerstags um 19:00 Uhr willkommen. Bei Interesse melden Sie sich unter teaminaktion(at)gmail.com 

Auch der Studienkreis Ruhi 10.2 beschäftigt sich mit dem Thema Beratung. Viele Gruppen haben bereits davon profitiert, dieses Buch gemeinsam zu studieren, und ihre Beratungsprozesse verfeinert. Wenden Sie sich an Ihre Gemeinde oder das für Sie zuständige Institutsboard, um zu erfahren, wann Sie an diesem Kurs teilnehmen können. 

Fußnoten[+]

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